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"Beim Gehen predigen“ oder „Der Mensch als Wallfahrer“

Pilgern
Datum:
Veröffentlicht: 23.9.19
Von:
Georg Kestel

Generalvikar Georg Kestel über den neu-alten Trend zur Wallfahrt

Der Heilige Franz von Assisi, so erzählt die Legende, schlug eines Tages einem jungen Mönch vor, sie sollten in die Stadt gehen und dort den Leuten predigen. So machten sie sich auf den Weg, sie gingen über die Straßen und über den Marktplatz und unterhielten sich dabei über ihre geistlichen Erfahrungen. Als sie schon wieder auf dem Weg nach Hause waren, rief der junge Mönch ungeduldig aus: „Aber wir wollten doch den Leuten predigen!“ Franz von Assisi legte lächelnd die Hand auf die Schulter des jungen Mannes. „Wir haben die ganze Zeit nichts anderes getan“, antwortete er. „Wir wurden beobachtet und Teile unseres Gesprächs wurden mitgehört. Unsere Gesichter und unser Verhalten wurden gesehen. So haben wir gepredigt.“ Dann fügt er hinzu: „Merke dir, es hat keinen Sinn zu gehen, um zu predigen, wenn wir nicht beim Gehen predigen.“

Der Heilige Franz von Assisi, so erzählt die Legende, schlug eines Tages einem jungen Mönch vor, sie sollten in die Stadt gehen und dort den Leuten predigen. So machten sie sich auf den Weg, sie gingen über die Straßen und über den Marktplatz und unterhielten sich dabei über ihre geistlichen Erfahrungen. Als sie schon wieder auf dem Weg nach Hause waren, rief der junge Mönch ungeduldig aus: „Aber wir wollten doch den Leuten predigen!“ Franz von Assisi legte lächelnd die Hand auf die Schulter des jungen Mannes. „Wir haben die ganze Zeit nichts anderes getan“, antwortete er. „Wir wurden beobachtet und Teile unseres Gesprächs wurden mitgehört. Unsere Gesichter und unser Verhalten wurden gesehen. So haben wir gepredigt.“ Dann fügt er hinzu: „Merke dir, es hat keinen Sinn zu gehen, um zu predigen, wenn wir nicht beim Gehen predigen.“

Bei der Kriminalitätsrate spricht man von einer Dunkelziffer und meint das, was sich statistisch nicht erfassen lässt. Im Leben der Kirche gibt es etwas Ähnliches – aber im Positiven. Keine Dunkelziffer, trotz mancher Probleme, sondern bestimmte „Leuchttürme“ des Glaubens durch das aktive Beispiel von vielen Gläubigen – beim ehrenamtlichen Dienst in der Ökumene, in der Missionsarbeit über Kontinente hinweg, für die Bewahrung der Schöpfung, im Hospizwesen oder im interreligiösen Dialog. Auch die vielen Wallfahrer und Pilger unserer Zeit gehören auf die Positivseite der religiösen Bilanz. Sie „predigen beim Gehen“, denn ihr unübersehbares Glaubenszeugnis steht für die Kirche als das „Volk Gottes unter-wegs“ und lädt andere ein, sich mit ihnen auf den Weg der Gottsuche zu begeben.

Die Wallfahrt – ein Wachstumstrend

Es mag überraschen, dass gerade die Wallfahrten zu Fuß im Aufwind sind, wobei sich hier auch (junge) Leute beteiligen, die nicht unbedingt zu den treuen Kirchgängern zählen. Da werden ganze Nächte bei Wind und Wetter durchgewandert, es wird viel gebetet und auch gesungen. Das Wallfahrtsziel darf ruhig hundert Kilometer entfernt sein; in diesem Fall ist auch ein mehrtägiger Fußmarsch inklusive Zwischenübernachtungen kein Hindernis. Was kirchliche Strategen verwundert: dieser Trend ist keineswegs die Reaktion auf besondere (ober)kirchliche Aufrufe und Ermahnungen oder die Frucht neuer Pastoralkonzepte. Wir haben es hier mit dem Phänomen einer echten Basisbewegung „von unten“ zu tun, einer buchstäblichen „Abstimmung mit den Füßen“. Die Scharen dieser „freiwilligen“ Wallfahrer und Pilger haben ein gutes Gespür für Inhalte des Glaubens und Formen des Religiösen, die ihnen „persönlich etwas bringen“. Vielleicht mehr unbewusst suchen die Pilger Alternativen zu unserer globalisierten, mobilisierten und rationalisierten Umwelt: die Geborgenheit in der Gruppe; die Ganzheit von Naturerlebnis und geistlichen Impulsen; die Freiheit vom Alltag ohne Leistungsdruck; nicht zuletzt die körperliche Herausforderung beim streckenlangen Gehen.

Der moderne Mensch – ein „Wallfahrer“

Vielleicht ist der moderne Mensch überhaupt zum „Wallfahrer“ geworden. Der Berliner Schriftsteller Ulrich Woelk reflektiert in seiner Erzählung „Amerikanische Reise“ über Massentourismus und Bilderflut mit der Frage, ob es sich überhaupt noch lohnt, beispiel-weise in die USA zu fahren, nachdem man in ungezählten Fernsehserien, Filmen und Nachrichten bereits dort gewesen ist. Er schreibt: „Es gibt in den meisten Kulturen einen ersten Besuch, der nicht die Funktion einer Reise hat, sondern die eines Rituals: die Wallfahrt – eine Reise also, bei der es gar nicht darum geht, eigene Erfahrungen zu machen, sondern kollektive Erfahrungen zu teilen. Man könnte also sagen, dass die Menschen heutzutage immer mehr von Reisenden zu Pilgern werden – die Bilder erzeugen eine Generation von Wallfahrern“. – Ob ich zur Safari nach Afrika aufbreche oder die Chinesische Mauer besteige – die Bilder in meinem Kopf liegen immer schon bereit. Die Kulturwissenschaftler sprechen vom „Iconic Turn“, der alles bestimmenden Macht der Bilder. „In der globalisierten Welt wird Heimatlosigkeit zum Normalfall“, titelte ein Magazin und folgerte: „Umso wichtiger werden tragfähige Bindungen zu Menschen, die den Phantomschmerz der heimatlos Gewordenen lindern können“.

Deshalb bin ich überzeugt, dass der Pilger-Trend mit diesen Zeitgeist-Erscheinungen etwas zu tun hat. Das um sich greifende globale Lebensgefühl verlangt ausgleichend nach Übersichtlichkeit und Nähe. Angesichts der Überfülle der Informationen und im Durcheinander der Lebensentwürfe fragen viele zunehmend nach dem persönlichen Sinn ihres Lebens. Sie suchen verlässliche Wegbegleiter, die ihnen helfen, im mitmenschlichen Kontakt die eigene Identität zu entwickeln. Dass angesichts dieser gesellschaftlichen Situation die bewährten Traditionen des Glaubens, wie zum Beispiel das Wallfahrts- und Pilgerwesen, neu in den Blick geraten, ist ein Zeichen für die Lebendigkeit und die Erneuerungskraft des Christentums. Ist doch der Glaube immer ein Unterwegs-Sein, ein anspruchsvolles Miteinander-Gehen, ein unablässiges Sinn-Suchen, eine anstrengende wie auch segenbringende Offenheit für Neues und Ungewohntes. „Ich bin der Sucher eines Weges, der breiter ist als ich“ – so der Lyriker Günther Kunert.

Das Religiöse – mit Klärungsbedarf

„Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof. Wie Religion heute lebendig ist“ – so lautet ein Buchtitel aus jüngster Zeit. Wir leben in einer Epoche großer Veränderungen und Bewegungen im Bereich des Religiösen. Auf der einen Seite schwächelt die frühere Volkskirche, auf der anderen Seite verzeichnet der Markt verschiedenster religiöser Angebote einen ungebremsten Boom. Da werden die unterschiedlichsten Dinge miteinander kombiniert. Aberglauben, Naturmystik, die Beschwörung kosmischer Energieströme, Bausteine östlicher Weltreligionen, moderne Hexerei und vieles andere findet Unterschlupf unter dem Dach der Esoterik. Da braucht es einen festen Standpunkt, um im Durcheinander der verschiedenen Sinnangebote nicht die Orientierung zu verlieren. Das Problem dabei ist: die Religiosität, wiewohl ein Urelement im Menschen, kann auch manipuliert und missbraucht werden. Der Historiker Ernst Nolte meint, dass die Sehnsucht nach dem Göttlichen zugleich der „Thronsessel und das Marterholz“ des Menschen sein kann. Diktatoren, Ideologen, Fundamentalis-ten und Sektenführer der verschiedensten Sorte nutzen das gnadenlos aus. Wem es gelingt, sich als Heilsbringer und Sinnstifter einzuschmeicheln, der hat den Menschen ganz in der Hand. Deswegen braucht es ein Bekenntnis, das eine klare Auskunft über Wege, Inhalte und Ziele des religiösen Lebens gibt. Ein Christ zumindest weiß, dass er nicht irgendetwas Beliebiges glaubt, dass Glaube in kirchlicher Gemeinschaft keine Privatsache ist und dass niemand sich sein Credo selber nach Gutdünken zusammenbasteln kann. Er hält sich an Christus, der von sich sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6).

Der Weg ist nicht das Ziel

So wichtig für den Wallfahrer der Weg an sich ist, die zeitliche Dauer der schrittweisen Annäherung an sein Ziel, so deutlich muss festgestellt werden, wenn wir es mit dem Kern von Glauben und Religion zu tun haben: der Weg ist eben nicht das Ziel! Zwar kehrt der Ausflügler am Ende seiner Wochenendtour wieder an den Ausgangspunkt seiner Wanderung zurück, weil dort sein Auto steht. Und der Jogger absolviert seine tägliche Route von der Wohnung aus und kehrt dahin zurück. Beide haben als Ziel die körperliche Bewegung also solche. Teilweise mag das auch noch für den Wallfahrer gelten. Aber vom Jogger und Wanderer unterscheidet ihn schon, dass er nicht einfach im Kreis herum läuft, sondern sich klar auf ein bestimmtes Ziel hin bewegt. Spätestens aber, wenn wir den unmittelbaren Bereich des Alltags verlassen, wenn wir weiter und tiefer fragen, also zum Beispiel nach Inhalten und Werten für unser (Zusammen)Leben, wenn es um die Entscheidung zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht, Wahrheit und Irrtum geht, dann reicht es längst nicht mehr aus, einfach einen „Weg“ zu gehen, ohne nach dem „Ziel“ zu fragen. Schon wer zum Beispiel ein Auto kauft, sagt nicht: „Hauptsache vier Räder und der Karren läuft“. Er wird sehr wohl seine Ansprüche formulieren, verschiedene Angebote einholen, die Preise vergleichen und noch eine Reihe anderer Gesichtspunkte bei seiner Entscheidung berücksichtigen. Der Weg ist nicht das Ziel. Aber nur wer sich auf den Weg macht, wird seinem Ziel näher kommen. Der Philosoph Hans Jonas weist auf ein Paradox unseres Glaubens hin: wir können Gottes Wort erst dann richtig hören, wenn wir innerlich schon begonnen haben, darauf zu antworten. Wir dürfen Gott finden, wenn wir die Suche nach seinen Spuren nicht aufgeben. Dafür legen die christlichen Wallfahrer ein ansteckendes und ermutigendes Bekenntnis ab.